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Anna Malagrida. Paris fatigué. 2018–2021
3. September 2022 · 12:00 – 29. Oktober 2022 · 17:00
In ihrer sechsten Einzelausstellung in der Philipp von Rosen Galerie fächert Anna Malagrida unter dem Titel ‚Paris fatigué. 2018–2021‘ drei Serien auf, die in den letzten drei Jahren entstanden sind und unmittelbaren Bezug nehmen auf aktuelle gesellschaftliche Krisen. So bilden die grassierende Covid-19 Pandemie und die Aufmärsche der Gelbwesten-Bewegung in der französischen Hauptstadt den Ausgangspunkt für die jüngsten Werke der in Paris und Barcelona lebenden Künstlerin. Malagrida geht stets von Beobachtungen ihrer Umgebung aus, um komplexere soziale Zusammenhänge zu ergründen. Dabei begreift sie die Stadt als einen Körper, dessen Äußerungen und Anfälligkeit sie anhand auffälliger Ausprägungen aufspürt. Dementsprechend weisen in ihren ortsbezogenen, sich organisch entwickelnden fotografischen und filmischen Werken oberflächliche Vorkommnisse symptomatisch auf tiefgreifende Strukturen des Wandels.
Die Serie ‚Paris barricadé‘ besteht aus Aufnahmen von Schaufenstern aus dem Zentrum von Paris, namentlich der Gegend um den Étoile und den Champs Elysées, die von Anwohnern und Geschäftsinhabern zum Schutz vor den seit 2018 regelmäßig samstäglich stattfindenden, oft gewaltvollen Protesten der Gelbwesten mit Sperrholzplatten verschalt wurden. Am Tag nach den Demonstrationen begaben sich Malagrida und ihr Lebensgefährte, der Fotograf Mathieu Pernot, in die Gegend der Straßenschlachten. Hier stellt sich eine Realitätserfahrung des Künstlerpaares ein, die eklatant von den über die sozialen Medien verbreiteten Szenarien eines in Flammen aufgehenden Paris abweicht. Denn überall herrschte weniger sonntägliche denn geisterhafte Ruhe. Dieses Missverhältnis zwischen medial verbreiteter Katastrophe und der Stille vor Ort spiegelt ein gesellschaftliches Ungleichgewicht wider, welches durch aufgeheizte Stimmung aufrührerische Tendenzen befeuert.
Die Verblendungen sind lückenlos in Fenster- und Türöffnungen der eleganten Gebäude eingefügt, manchmal umgeben Vorbauten einen stattlichen Eingangsbereich. Malagridas Serie aus einzelnen Bildern zeigt nüchtern – aus frontaler Perspektive und unter gleichbleibenden Bedingungen – aufgenommene typologische Variationen des Motivs. Dabei sind die improvisierten, temporären Interventionen, die sich vom soliden Mauerwerk abheben dem gepflegten Standard der Gebäude und der wohlhabenden Stadtviertel angepasst. Über den rein dokumentarischen Charakter der Aufnahmen hinausgehend, verleiht die häufige Wiederholung diesen vorgeblendeten Elementen in ihren vielfachen Ausprägungen einen eigenständigen bildnerischen Wert, der einer minimalistischen Ästhetik folgt und auch – nicht zuletzt durch die Berücksichtigung der farblichen Werte – auf das kontrastierende Verhältnis von Figur und Grund anspielt. In ihrer nahezu exakten formalen Entsprechung der verletzlichen Gebäudeteile bilden die sorgfältig angepassten Paneele diese in zeichenhaft reduzierter Form – wie Ausschnitte – quasi stellvertretend ab. Die präventiven Vorkehrungen bezeichnen damit Zonen der Durchlässigkeit und potenzielle Angriffsflächen, sind aber ihrerseits durch die ihnen eingeschriebene offensive Defensivhaltung unübersehbare, gar provokative Zeichen von aggressiv aufgeladener Angst.
Von formaler und inhaltlicher Prägnanz, entfalten Malagridas Bilder eine überaus starke Wirkung. Nicht nur verweisen die versiegelten Gebäude auf ein Stadtbild im Ausnahmezustand. Vielmehr behaupten sie sich als Sinnbilder, die metaphorisch das Thema der Sichtbarkeit, Zugänglichkeit und letztlich, auf einer sozialkritischen Ebene, der Zugehörigkeit beleuchten.
Die Holzpaneele verkörpern nämlich vor allem die erstarkte Grenze zwischen Außen und Innen, zwischen öffentlichem und privatem Raum, zwischen Gemeinwohl und individuellem Wohlstand, an der der Kontrast zwischen gesellschaftlichen Gruppen, aber auch die existenzielle Dualität zwischen Eigenem und Anderem ausgetragen wird: Am Schaufenster der Luxusboutiquen selbst spiegelt sich letztlich die scharfe Gegenüberstellung zwischen exklusiver Klientele und weniger kaufkräftigen Bevölkerungsschichten. Die Verstärkung durch die errichteten Holzpaneele untermauert so die Symbolkraft der Schaufenster als deutliche Trennlinien, als Zeugnisse einer Spaltung, an denen sich Differenzen ab- und Ränder herausbilden, aus denen sich letztlich Ausgegrenzte und Benachteiligte zu Protestgruppen organisieren, die dann als Bedrohung wahrgenommen werden. Im Spannungsfeld gesellschaftspolitisch aufgeladener, gegnerischer Standpunkte stellt Malagrida subtil die Frage nach der Perspektive, um die eng gefasste Klassifizierung von Täter und Opfer, die klare Unterscheidung zwischen Angriff und Verteidigung zu relativieren: Die Positionierung vor oder hinter der Barrikade bestimmt den Blickwinkel und die eingenommene einseitige (die andere jeweils ausschließende) Sichtweise aus der sich Feindbilder ergeben.
Während der Ausbreitung von Corona wurde der Mund-Nasenschutz zum Attribut des Individuums angesichts einer gesundheitlichen Gefahr und erlangte Bedeutung als allgemeines Zeichen einer neuen pandemischen Realität. Eine Realität die – ähnlich den verdeckten Schaufenstern in ‚Paris barricadé‘ – geprägt ist durch eine Abwehrhaltung, die zum Schutz vor einer Bedrohung von Außen eingenommen wird – ob es sich um den Angriff durch eine militante Bürgerbewegung oder einen Virus handelt.
Anna Malagridas Serie ‚Les passants‘ basiert auf Aufnahmen einzelner Bewohner von Paris, die zwischen dem ersten Lockdown im März 2020 und Februar 2021 entstanden sind, als das tägliche Leben in Frankreich stark durch die staatlich verordneten Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie bestimmt war. An elf unterschiedlichen Orten innerhalb des Stadtgebiets stellt Malagrida ihre Kamera auf, deren Standpunkt fixiert blieb. Malagrida erfasst Menschen während ihrer täglichen Gänge durch das Viertel, deren Bewegungsradius und zeitliche Dauer streng limitiert war. Die entstandenen Aufnahmen wirken wie Aufzeichnungen der flüchtig Vorübergehenden. Aber auch die verstreichende Zeit wird durch die veränderlichen Verläufe von Licht und Schatten eingefangen und als Gegenbild zum Stillstand präsentiert, in dem die Gesellschaft verharrte. Gerade vor diesem Hintergrund der staatlich verschärften Trennung zwischen Innen- und Außenraum – wortwörtlich bedeutet „Lockdown“ Verschließen oder Blockieren – setzt sich Malagrida mit Methoden der Überwachung und Kontrolle auseinander. Ihr solitäres Erscheinen vor der Kamera spiegelt das vereinzelte Auftauchen der Menschen im öffentlichen Rahmen – Sinnbild ihrer Isolation – wider. Damit wird zugleich die Bloßstellung des Einzelnen, im Sinne einer Sichtbarwerdung zu einer Zeit, in der es um Kontaktbeschränkungen und die weitgehende Unsichtbarkeit in der Öffentlichkeit geht, reflektiert.
Um einen Realitätskonflikt kreist schließlich auch die Installation ‚Paris confiné‘, bestehend aus einem Postkartenständer, der mit sechzig Postkarten gefüllt ist. Auf diesen Ansichtskarten sind Fotografien abgebildet, die Malagrida und Mathieu Pernot vom historischen, aber menschenleeren Zentrum von Paris gemacht haben, als Ausgangssperre und Reiseverbot das Erscheinungsbild der Metropole von März bis Mai 2020 bestimmten. Während die touristischen Attraktionen der Stadt auf der Vorderseite gedruckt erscheinen, trägt die Rückseite von Malagrida und Pernot handschriftlich notierte Wörter, die während Pandemie als Neologismen aufkamen und eine Art Stimmungsbild einer alarmierten Öffentlichkeit verbreiten. Malagrida und Pernot schicken sich diese dann gegenseitig (an die gemeinsame Pariser Anschrift) zu. Hintersinnig und humorvoll wird damit die traditionelle Funktion der Karten konterkariert, eine idealtypische Urlaubsimpression aus der Ferne zu vermitteln. Im Kontrast zwischen Abbildung und Text, Schau- und Kehrseite wird die vorgetäuschte Realität touristischer Idealbilder mit der am „Sehnsuchtsort“ Paris alltäglich gelebten, bisweilen unangenehmen Realität konfrontiert. In den konträren Ansichten offenbaren sich nebeneinander existierende, teilweise unvereinbare Realitäten – oder eben Sichtweisen.
